Montag, 7. Juli 2014

Ein Fundstück aus dem Barock.

Weihnachtspredigt zum Thema Buch und Bibliothek

Frakturschriftlesen gehört heute nicht mehr zu den selbstverständlichen Fertigkeiten der Menschen. Wer es entgegen den allgemeinen Trends doch noch kann und zum Vergnügen oder aus wissenschaftlichem Interesse in alten Büchern stöbert, wird abenteuerliche Entdeckungen machen. Man muss die oftmals dickleibigen alten Schwarten heute nicht mehr in den Lesesälen entlegener Bibliotheken studieren, es genügen ein Internetanschluss daheim und ein wenig Erfahrung im Umgang mit digitalen Sammlungen (z. B.),  dem Karlsruher Virtuellen Katalog und seiner Unterabteilung „Digitale Medien“. Sind diese Basisbedingungen erfüllt, öffnen sich ehemals wohlgehütete Schatzkammern fast wie von selbst. 
Beim Stöbern in diesen Schätzen konnte allerdings die Weihnachtspredigt, die ich einmal in der gedrucken Ausgabe eines alten Buches von 1695, der „Postilla“ von Johannes Riemer, in der Universitätsbibliothek der FU gesehen hatte (Signatur 38/76/86981), nicht wiedergefunden werden. Sie scheint in den digitalisierten Ausgaben von 1684 (Dresden) und 1700 (Göttingen) nicht enthalten zu sein. Diese Predigt ist deswegen für Bibliophile von besonderem Interesse, weil in ihr das Buch den metaphorischen Bezugsrahmen für die Verkündigung des Evangeliums liefern muss. Ihr Verfasser ist Johannes Riemer (1648-1714), bekannt als Autor umfangreicher Romane, Dramen und Abhandlungen zur Rhetorik. Er hat 1684 auch diese Sammlung von Predigten auf alle Sonn- und Feiertage des Jahres herausgegeben, deren Text allerdings nicht in den von Helmut Krause herausgegebenen Band 4 der Werkausgabe Riemers (Berlin, de Gruyter 1987) aufgenommen wurde. Hier stehen nur die Abschlussgedichte der Predigten.

Schon der pompöse Titel dieser Predigtsammlung ist bemerkenswert, weil er trotz allen Wortaufwandes doch eher dazu geeignet erscheint, von der Lektüre abzuschrecken:
 
„Blaße Furcht und Grünende Hoffnung. Bey Schlafflosen Nächten / Der bedrängten Christen Zwischen Himmel und Hölle. Allen Blöden Gewissen und frechen Sündern Der ungezäumeten Welt Aus dem Trost= und Gerichts=Buche Jesu Christi / vorgerücket von Johann Riemern / Professorn zu Weissenfels. Merseburg / In Verlegung Christian Forbergers / Buch=Händlers / J.J. 1684. Weissenfels / druckts Joh. Brühl / F. S. H. u. A. Buchdr.“

Dieses so dräuend sich ankündigende Buch sollte wohl nicht nur als Postille zur Erbauung dienen, es war vermutlich auch ein Lehrbuch, das Riemer für seinen Rhetorikunterricht benutzt hat. Es ist bis 1715 noch dreimal nachgedruckt worden und heute in etwa zehn deutschen Bibliotheken vorhanden. Die Ausgabe von 1684 kann im Internet gelesen werden, die Ausgabe von 1700 hier.

Im Vorwort schreibt Riemer:

So lange ich in der Oratoria mit jungen Leuten zu thun gehabt / ist diß allezeit mein Vorsatz gewesen / denen kurtzen wenigen Regulen / so ich ihnen zum Fundament der Kunst vorgeschrieben / solche Exempel in praxi zu unterziehen / daß ich iederzeit diese Stunde ein geistliches / folgenden Tag / ein Politisches Thema zur Ubung meinen Zuhörern / vorgegeben / und ihre Elaboration hernach von Stunden zu Stunden mit der Meinigen verbessert. Nachdem ich mich nun dazu meine schuldige Andacht aus denen Evanglischen Sonntags-Texte / nicht wenig anleiten lassen / auch meine Zuhörer nur fort für fort angelegen / ich möchte ihnen doch einen gewissen Indicem ordnen / und den Weg weisen / wie sie zu Oratorischem Behuff / einem Vorrath von guten und zierlichen Realien erlangen könnten/ als fiel mir bey / die gefälligen / so genandten Sonntags-Evangelia / als gewisse Classen der Oratorischen Realien zu vertheilen / und diese / so viel mir möglich gewesen / reichlich / als gleichsam in einem Lexico vorzustellen . . .

Was nun besagte Weihnachtspredigt betrifft, so lautet deren Überschrift: „Christus das Buch des Lebens : Die Welt eine ärgerliche Bibliotheck“. Zugrundegelgt ist der Anfang des Johannesevangeliums („Am Anfang war das Wort . . . „)

Der Text hebt an mit kritischen Hieben gegen den seinerzeitigen Buchhandel und die Buchkultur überhaupt:

„Welche Messe wird wol in der Welt gehalten / da nicht mehr Bücher ans Licht kommen / als in etzlichen Jahren können gelesen werden. Die Erbauung wird in öffentlichen Schrifften nicht mehr gesuchet. Gottes Ehre / welche sonst der Zweck aller Dinge ist / setzen die meisten Scribenten auß denen Augen. Lob und Vorzug der Person / die da schreibet / will wol der Schrifften erste Ursache seyn. […] Der will der Gröste seyn / welcher das meiste zu lesen herfür giebet. […] . . .heut zu Tage läst der Verfasser einer Schrifft / seinen Eigen=Ruhm die erste Sorge seyn.“

Riemer meint hingegen den ganzen Bücherkram entbehren zu können, da Gott uns in der Heiligen Schrift „eine grosse und weitläuffigte Bibliothec“ hinterlassen habe. Hinzu komme die weise Maßnahme des Allerhöchsten, dass er die „Drückerey=Kunst“ habe erfinden lassen, um sein Wort unters Volk zu bringen, denn „Nunmehr kann der arme Mann / die gantze Heil. Schrifft vor achtzehn Groschen kauffen“. Den Sammlern kostbarer Bücher wird vorgehalten, dass sie ihre Schätze nur zum Prunk dastehen haben, aber kaum darin lesen. Dagegen lobt er „ein besudelt Buch / welches vom öfftern Gebrauch in der Hand eines andächtigen Haußvaters / gantz beschmützet und weggegriffen ist.“ Dem Rechtschaffenen reichen Bibel, Katechismus, Gesangbuch und die Postille. Hat er diese Schätze daheim auf dem Bord stehen, ist er mit allem Nötigen reichlich versehen.

Aber auch die „Bibliothec“ der „Kinder GOttes“ enthält noch andere nützliche Sachen, die alle zum Ruhme des Allmächtigen dienen:

„Sie haben noch andere Haupt=Bücher. Die sind übertrefflich kostbar. Bücher müssen in ihren Schrancken feine Ordnung haben. Die Geistlichen haben ihren eigenen Platz. Die Weltlichen / und Gesetz=Bücher ihre gewisse Reye. Die Artzney= und Kräuter=Bücher stehen auch in ihrer Besonderung. Eben diese Ordnung behält JEsus das Buch des Lebens. Die gantze Schrifft ist seine Bibliothec.“ (S. 97)

Nun fährt der Prediger fort, die Vorzüge der Heiligen Schrift zu preisen und beklagt nur, dass das Buch nicht fleißig genug gelesen wird. Schon dass es nicht neu gekauft worden, sondern „durch Erbschafft mit unter den Hauß-Rath kommen“, scheint ein Makel zu sein. Schlimmer und tadelnwerter ergeht es dem kostbaren Buche hier:

„Aber da liegt dennoch das liebe Buch voll Staub und ohne Gebrauch. Zwar den Worten nach gebraucht sich desssen der Hauß=Herr sehr fleißig : indem er Tag und Nacht darüber lieget : aber nicht zu studiren / und darinnen zu lesen : sondern darauff zu schlaffen. So lange er nemlich das hochtheure Buch auff der Banck / als ein Hauptküssen unter dem Kopffe hat.“ (S. 100)

Nun scheint der Prediger sich recht in Zorn geredet zu haben, denn er zieht jetzt gegen die verderbliche und verdammenwürige weltliche Lektüre zu Felde:

„Dagegen von schändlichen Dingen / finden sich wol zweyhundert und vier Bücher / von fünff Männern geschrieben / daß ich mit Esra so rede 1. B. IV, da sehe ich junge Leute über den Amadis sitzen / und sich blöde darinnen lesen. Ein Buch welches lauter Liebes=Narren=Possen voll / viel tausendmahl in die Welt gedrucket worden. Das menschliche Hertz ist sonst nicht böse von Jugend auff. Hat doch das Fleisch nicht von Natur seine sündlichen bösen Reizungen : Man möchte dieselben auch noch auß Büchern anzünden und rege machen. Haben einige an Liebs=Händeln keine Lust zu lesen : so treibt sie ihr sündlicher Wollgefallen zu Sau=Possen. Uber Zoten und unflätigen Worten können sie halbe Tage sitzen : und dergleichen Bücher mit beständiger Lust wol zum drittenmahl durchlesen. Hercules und Herculiscus / zwey Spannen=dicke Bücher / haben bey manchen Weibsbilde viel Liecht weggefressen / und der Jugend den Kopff zerbrochen. Ja / welches fast lächerlich zu sagen : Man siehet feine alte Matronen die Buhlen=Bücher durch die brillen lesen. O! ein Betbuch davor in die Hand . . .“ (S. 100)

Aber das ist noch nicht der Gipfel der Ereiferungen gegen die schlechten Bücher. Der Höhepunkt folgt gegen Ende der Predigt in einer furiosen Verfluchung und Verdammung:

„Das alles sind schlimme Bücher. Die Hölle hat diese Bücher erdacht. Die wird auch ihren Schülern den Verlag dafür bezahlen. Mit Feuer und Kohlen / die nimmermehr verleschen. Die Asche von solchen Büchern wäre besser / als die gesunden Blätter. Denn darinnen sehen sie doch keine ärgerlichen Buchstaben. Solche Bücher sind wie die Frösche in Egypten / als welche auch die Lager besudeln. O daß doch solche Bücher alle verbrandt wären / wie dort die vorwitzigen Kunstbücher. Apost. Gesch. 19. Oder daß sie gar gefressen wären / wie das Buch der Offenb. Joh.

Es folgt noch eine praktische Handlungsanweisung: „das müst ihr thun : verführerische Bücher helffen dämpfen und tilgen. Hingegen aber Christum das Buch des Lebens pflantzen und fortbringen. Das ist ein Buch vor die / so gen Himmel gedencken.“ Dann mündet die Predigt in ein gefühlvolles Schlussgedicht, das von der brennenden Liebe zum Herrn Jesus spricht („Ich mag von nichts sonst wissen; Als JEsum nur zu küssen . . .“)

In allen Predigten des Bandes werden sinnbildhafte Gegenstände oder Verhältnisse verwendet, um die rhetorische Hinführung zum Glauben anschaulich und wirklichkeitsgesättigt zu machen. Die Themen werden im Vorspann zur Predigt genannt. Man findet dort den „Wolff im Fuchsbalge“, die „Helle Fünsternüß“, den „einheimischen Frembdling“, den „Wirth zu Gaste“, den „Schlaffenden Steuer-Mann“ und andere interessante Themen-Vorgaben, die dem Prediger Gelegenheit geben, die Alltagserfahrungen seiner Zuhörer zum Anlass für Lob und Tadel, für Seligpreisung und Verdammung zu nehmen. Für den Gebrauch der Rhetorikschüler gibt es ein Register der behandelten Gegenstände, das uns Heutigen, denen die Lektüre der Predigten selbst kaum Erbauung sondern nur noch Erheiterndes bietet, leichten Zugang zu interessanten Themen eröffnet und Einblick in die Befindlichkeiten, Denk- und Verhaltensweisen einer verschollenen Zeit gewährt.

Ulrich Goerdten

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