Mittwoch, 21. Mai 2014

Das Buch als Beute

Geyler - Narrenschyff, Büchernarr
(aus: Anonymous - Navicula sive
Speculum fatuorum. Straßburg,
Postinkunabel)
Goethe - um seiner auch hier zuerst zu gedenken - übersetzt in den "Maximen und Reflexionen": "Auch Bücher haben ihr Erlebtes." Vor dem "habent sua fata libelli" stehen allerdings im Urtext des Terentianus Maurus noch die Worte "pro captu lectoris", und gerade dieser zumeist unterdrückte Teil des beliebten Zitats erweist sich als besonders sinnträchtig, wenn mann die Goethesche Freiheit des Weglassens einmal umkehrt in einen Drang zur Wörtlichkeit, der das "captu" nicht nach der klassischen Tradition als geistiges Fassungsvermögen, sondern nach dem semantischen Grundgehalt des Verbums "capere" als Zupacken, Raub, Beute begreift. So manchem Buch wird nämlich ein oftmals ergreifendes Schicksal zuteil. Fast jeder kennt die milderen Formen der Jagdlust, die den Betrachter von Buchhandelsschaufenstern befallen können. Die aufreizend ausgebreiteten teuren Neuerscheinungen mit ihren knalligen Aufmacherbildchen, die steifgraue Unscheinbarkeit wissenschaftlicher Publikationen, die ärmlichen Schmuddelkinder in den Grabbelkisten, sie alle wecken eine unklare Lust aus Hingrabschen und Beschnuppern, mit der Folge, daß, sobald man das Buch in der Hand hat, darin geblättert und einen Halbsatz gelesen hat, ein weitläufiges Phantasiegebilde zusammenschießt, in dessen Mittelpunkt das liebe Selbst in edler Haltung der Leselust obliegend vom angenehmsten Licht umflossen erscheint.
Wer dem Zugriff-Impuls dann nachgibt, sei es, daß er der bürgerlichen Ordnung gemäß (erwirb es, um es zu besitzen - um auch Goethe einmals das verkürzte Zitiertwerden angedeihen zu lassen), sei es, daß er krass kriminell sich des Buches bemächtigt, der kann es erleben, daß ihm das begehrte Stück daheim plötzlich seines Phantasieschmuckes entledigt gänzlich wertlos erscheint; es verschwindet ungelesen im Regal, steht nur noch so als Trophäe herum, wird höchstens von einem Besucher entdeckt, der von verwandtem Wahne befallen das Buch ausleiht und es nun selbst wieder ungelesen wegstellt, vergißt und nie zurückerstattet. Ein mehr oder minder großer Teil jeder Privatbibliothek wird aus solchen Phantomgebilden bestehen, die nicht für konkrete und aktuelle Lese- und Arbeitsbedürfnisse angeschafft wurden, sondern ihrem Besitzer "irgendwie" zu eigen geworden sind. ... è weiterlesen
(Ulrich Goerdten)

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